Beschreibung
Leseprobe
Die Winde der beiden Meere brausen über die weissen, flachen Dächer des Kasbah-Hauses. Sie wühlen im Fell der schwarzen Katze, zerren an der aufgespannten Wäsche, dass die Zipfel der tanzenden Tücher lärmen wie Peitschengeknalle. Unsanft ernten sie aus dem rauschenden Blättergewirr des mächtigen Feigenbaumes die überreifen Früchte. Zerschmettert, das rötliche Innere blossgelegt, kleben sie auf dem Boden der sonnenwarmen Dachterrasse, heimgesucht von einem Heer kleiner, brauner Ameisen. Gegenüber, auf dem alten Sultanspalast, windet sich die rote Fahne mit dem grünen Stern hilfesuchend um sich selbst, winkt mit der einzigen noch losen Ecke verzweifelt in den strahlenden Nachmittag und weiss nicht, wie ihr geschieht.
Die Katze steht ganz still, die rechte, leise zitternde Pfote leicht angehoben. Angespannt bis in die dünne Schwanzspitze sieht sie den Wagen über den unebenen Boden des staubigen Platzes holpern und in einem halben Bogen in der Gasse neben der alten Mauer verschwinden. Noch ist sie sich nicht sicher, noch mag sie es nicht glauben, obschon die Betriebsamkeit dieses Morgens sie hätte warnen sollen. Ihre nach vorn gerichteten Ohren zucken, erhoffen vertrauten Klang. Sie wartet, wartet bis sich die Kinder der Volksschule auf ihrem Heimweg lärmend durch das Tor der Medina drängen, wirft einen kurzen Blick zu den breitfedrig zwischen den Zinnen hockenden Tauben, springt gewandt über die steinerne Bank hinab zum Altan. Der Napf steht noch da, halb gefüllt, sie beschnuppert die Brocken, aber hungrig ist sie nicht – noch nicht.
Sie legt sich hin, vor die Gittertüre; dort wirft der Kaminhut um diese Zeit seinen Schatten, sie leckt ihre Pfote, fährt damit über den Kopf, die Ohren, streckt sich, wälzt sich kurz und kugelt sich zusammen. Eine kleine Weile beobachtet sie die über ihr im Aufwind segelnden Möwen, dann schliesst sie die Augen. Keinen Grund, sich jetzt schon Sorgen zu machen.
Pia Paolucci –
Spannend und geheimnisvoll zu lesen! Bildhaft und voller Farbe ist diese Geschichte eines einsamen Strassenjungen und einer ebenso einsamen Katze.